Paul

Paul und das Lernen über Erfahrungen

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Schon lange nichts mehr über meinen Paul geschrieben. Nicht, dass jemand denken könnte, er hätte an Relevanz verloren. Ganz im Gegenteil. Er und sein Glück sind mir das wichtigste im Leben. Denn Glück ist selten geworden, wo es doch so wichtig ist. Wichtig vor allem auch für die Gesundheit.

Paul ist gesund. Abgesehen von einer genetisch bedingten Bauchspeicheldrüsenunterfunktion, mit der wir sehr achtsam umgehen, damit sie seine Lebensqualität nicht beeinträchtigt. Paul hat keine Allergien, keine Unverträglichkeiten, keine Bindehautentzündung, keine Gelenkprobleme, keine Atembeschwerden, Magen und Darm funktionieren vorbildlich. Sein Fell glänzt, er isst nicht über seinen Hunger hinaus, trinkt ausreichend, schläft gut. Er ist entspannt und ausgeglichen. Im Rahmen seiner rassetypischen Wesensmerkmale absolut verhaltensunauffällig. Keine Ängste, nicht schreckhaft und keine Manien. Paul hat noch nie geknurrt, gezwickt oder gar gebissen.
Das ist mein Resümee nach dreieinhalb Jahren mit Paul.

Paul gestern und heute

Wenn ich an unser erstes Zusammentreffen zurückdenke, hat Paul sich kaum verändert. Er ist einfach nur 30 Kilo schwerer geworden. Sein Gemüt und seine Verhaltensweisen sind identisch. Er ist immer noch sehr selbstbewusst und unbedarft. Sprang im Tierheim als einziger am Zaun hoch und war sich sicher, dass wir gekommen sind, um ihn abholen. Wie recht er doch hatte.

Er springt heute noch hoch, das haben wir ihm nicht abgewöhnt. Uns macht es nichts aus. Wir wissen, dass er sich unbändig freuen kann und auch ein bisschen aufgeregt ist. Ist das nicht schön? Dass er seine Lebenslust noch immer nicht verloren hat und er seine Persönlichkeit leben darf? Dass er nicht gemaßregelt, auf seinen Platz geschickt wird und sich in Zurückhaltung üben muss? Paul zeigt sehr gerne und vor allem oft seine Zuneigung. Mit einer Leidenschaft, wie wir sie vor Paul nicht kannten. Paul küsst und umarmt, sucht immer öfter Körperkontakt.
Ist es so verwerflich, dass ich keinen gehorsamen Hund möchte? Dass ich ihm seine Individualität erhalten möchte. Dass er zu unserem Leben passen soll, nicht in die Vorstellung von anderen? Die unter Umständen noch nie einen Hund hatten oder vor vielen Jahren einmal. Die sich noch nicht einmal die Mühe machen, meine Hintergründe verstehen zu wollen. Denn ich habe meine guten Gründe, Pauls Persönlichkeit zu respektieren und nicht Dauergast in einer Hundeschule oder beim Hundetrainer zu sein. Autowerkstätten sind oft besser recherchiert als Hundeschulen.

Da ist immer gleich dieses Schwarz-Weiß-Denken. Oh, da tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Der Hund tanzt denen auf der Nase herum. Die haben ihren Hund nicht im Griff. Dabei kann sich keiner beschweren. Denn wir sind respektvoll und kommen ihnen mit Pauls Temperament nicht in die Quere. Dafür gibt es eine Hundeleine. Man muss uns auch nicht besuchen, wenn man Hunde nicht mag. Denn Paul ist kein Hund, der unbeachtet unterm Tisch liegen mag. Er stand von Anfang an bewusst und von uns gewollt im Mittelpunkt. Das wird sich nicht ändern.

Fragwürdige Selbstverständlichkeit von Erziehung und Gehorsam

Erziehung und Gehorsam haben sich so verselbständigt, dass sie zur unbestrittenen Selbstverständlichkeit geworden sind. „Ein Hund muss gehorchen“. „Ein Hund braucht Erziehung“. Beides höre ich so oft. Von jungen und alten Menschen, von gebildeten und weniger gebildeten. Es zieht sich durch unsere Gesellschaft wie ein roter Faden. Hundeschulen und Hundetrainer im analogen Leben, im TV oder in den sozialen Medien sorgen für die Gleichschaltung und keiner hinterfragt den Sinn und Zweck. Gegenseitig befinden sie sich im Wettbewerb, was man alles wie trainieren kann. Immer höher, immer schneller, immer weiter. Für noch mehr Klicks und Buchungen, zu Lasten der ausgelieferten Hunde. Keiner bedenkt dabei die Konsequenzen, dass es kaum noch „naturbelassene“ Hunde gibt. Sie dürfen nicht mehr reagieren, nicht mehr ihren hündischen Beschäftigungen nachgehen. Wann und wo geschnuppert wird, wohin gelaufen wird und in welchem Tempo, das bestimmt der Mensch. Selbst ihren Artgenossen wissen sie nicht mehr zu begegnen.

Es gibt sie schon noch, die Hunde, die Hund sein dürfen. Die kleinen bis 10 Kilo haben oft Glück, dass ihnen keine überkandidelten Benimmregeln oktroyiert werden. Da sehe ich den ein oder anderen Hund, der einen glücklichen Eindruck auf mich macht. Das freut mich gleich doppelt. Zum einen für den Hund. Zum anderen für Paul, weil er trotz Größenunterschied einen Artgenossen auf Augenhöhe trifft. In den meisten Fällen, sofern der kleine Hund Paul seiner Größe wegen nicht fürchtet, mag man sich gegenseitig. Ohne dass ich es Paul übrigens beibringen musste, ist er sehr vorbildlich mit Hunden, die ihm kräftemäßig nicht gewachsen sind. Es wird niemals getobt oder „gespielt“, wie viele es nennen. Es wird das getan, was Hunde am liebsten tun. Gechnuppert, geschaut, gewälzt und markiert.

Erziehung versus Erfahrung

Nun drängt sich der Gedanke auf, dass ich es mir einfach mache. Keine Hundeschule, kein Trainer, kein Training. Eine durchgeknallte Veganerin, die denkt, sie wisse alles besser als ein erfahrener Hundetrainer. Nein, so ist es bei weitem nicht. Aber ich habe meinen Kopf zum Denken. Augen, die Missstände erkennen. Ein Bauchgefühl, das mir sagt, dass hier irgendetwas nicht stimmt. „Fachpersonal“, das wie Pilze aus dem Boden sprießt und immer mehr verhaltensauffällige und kranke Hunde. Da ist etwas ins Ungleichgewicht geraten.

Im Gegensatz zu vielen anderen blicke auf über 40 Jahre mit Hund zurück. Das sagt natürlich erstmal gar nichts aus, denn man kann in dieser Zeit auch alles oder zumindest vieles falsch machen. Habe ich aber nicht. Nichts Schwerwiegendes zumindest. Keiner meiner Hunde brauchte jemals einen Trainer oder Training. Sie waren geachtete Familienmitglieder, nie Hobby, Zeitvertreib, Statussymbol oder Lückenbüßer. Sie komplettierten unser Leben, fügten sich ein wie ein perfektes Puzzleteil. Entspannte Spaziergänge, Picknicks, Kuscheleinheiten. Überall mit von der Partie, nie lästig.

Mit meinem Wissen heute, habe ich Fehler gemacht. Nichts Dramatisches, das mir schlaflose Nächte bereiten müsste. Fair und liebevoll war ich mit allen Hunden. Alle habe ich in ihrer Persönlichkeit belassen, darauf habe ich instinktiv Wert gelegt. Aber dieses „überall mit von der Partie sein“, sehe ich heute komplett anders und bereue ich. Das habe ich durch Paul lernen dürfen. Der sich nicht seinem Schicksal fügt oder resigniert. Ich möchte nicht wissen, wie ein „klassisch Erziehender“ verfahren würde. Paul tut lautstark kund, wenn er sich nicht wohlfühlt. In einem Restaurant oder Biergarten zum Beispiel. Oder in der Stadt. Zu viele Reize und Verantwortung für einen wachsamen Hund, was ihm seine Genetik vorgibt. Wie soll er da allen Seiten gerecht werden? Auf alles achten und auf seine Menschen aufpassen?
Wie gut, dass Paul sich zu Hause so wohlfühlt und keine Probleme damit hat, alleine zu sein. Wir verbringen ansonsten Tag und Nacht zusammen. Ich glaube, dass er es manchmal sogar genießt, für ein bis zwei Stunden alleine zu sein. Mal so richtig zu schlafen, ohne darauf achten zu müssen, was Frauchen oder Herrchen machen.

Pauls Vorgängerin Wally haben wir überall hin mitgenommen. Wirklich überall. Ins Restaurant, ins Einkaufszentrum, zum Stadtbummel, sogar ins Kino. Im Nachhinein erinnere ich mich an ihre Beschwichtigungssignale, an ihr Hecheln, an ihre eingezogene Rute, an ihre Körperhaltung. Das sehe ich bei so vielen Hunden, die stolz in überfüllten Straßencafés, Innenstädten oder auf Festivitäten vorgeführt werden. Die wenigsten Hunde können das genießen oder finden Gefallen daran. Wie sollten sie? Bei ihren feinen Nasen, ihren hellhörigen Ohren, ihren aufmerksamen Blicken? Im besten Fall können Leckerchen sie trösten. So war es bei unserer Hündin. Glücklich war sie trotzdem nicht. Aber eben gefügig und brav, wie man seinen Hund gerne hat. Das haben wir ausgenutzt. Stolz waren wir auch auf unsere artige Wally. Dass sie so selbstverständlich neben uns her lief und auf den ersten Blick entspannt schien. Statt vernünftig zu sein und im Sinne des Hundes zu denken, dass er daheim in seinem kuschligen Bettchen besser aufgehoben wäre.

Es gehört auch menschliche Größe dazu, dazuzulernen und sich Fehler einzugestehen. Man bekommt, wie man an Paul sieht, die Chance, es besser zu machen. Wieder etwas gelernt, was der Lebensqualität und dem friedvollen Miteinander zugute kommt.

Lernen über Erfahrung

Habe ich zu Beginn geschrieben, dass Paul sich kaum verändert hat, dann trifft das bedingt zu. Paul war, wenn man es so nennen möchte, fügsamer. Wir hatten ihn überall dabei, wollten ihm alles zeigen, damit er alles kennt und ihn nichts erschüttern kann. So konnten wir ihm auf der anderen Seite aber auch einige schlechte Erfahrungen nicht ersparen, auf die wir keinen Einfluss hatten. Spielende Kinder, die ihn ärgerten. Lärm, der ihn erschreckte. Menschen, die sich schlecht benahmen. Andere Hunde, die ihn überforderten oder anfielen, weil sie nicht sozialisiert waren. Unser unbedarfter Paul wurde aus seiner Idylle gerissen und reagierte, wie ein selbstbewusster, selbstdenkender, intelligenter, aber gerade überforderter Hund es tut: er rebellierte, in dem er bellte oder in die Leine sprang. Fortan muteten wir ihm Vermeidbares nicht mehr zu.

Heute bestimmt Paul das Tempo selbst. Wie und was er lernt und verinnerlicht. Ich vergleiche das gerne mit mir und meiner Schulzeit. Ich habe Abitur und Hochschulabschluss, beides jeweils mit der Gesamtnote „Gut“ abgeschlossen. Was nichts zu sagen hat. Aber ich habe das geschafft, obwohl ich komplett anders gelernt habe, als Schule und Lehrer es vorsahen. Im Unterricht war ich anwesend, um zu sehen, welche Lektionen aktuell sind. Gelernt habe ich daheim. In meinem Tempo, in meinem Verständnis, mit meinen Eselsbrücken. In aller Ruhe, in meinem Zimmer. Nicht alles war meine Kernkompetenz, Naturwissenschaften lagen mir weniger als Sprachen. Auf meine Stärken habe ich schließlich mein Studium ausgerichtet.

So bin ich sehr dankbar, dass durch unseren achtsamen Umgang mit Paul sich Interessen herauskristallisiert haben, die das Erlernen für ihn sehr viel einfacher machen. Wir spazieren an reizarmen Strecken mit ihm, powern ihn selbstverständlich nicht aus, so dass er zu jeder Zeit klare Gedanken fassen kann.
Im Verlauf unseres Spazierganges sucht Paul sich einen strategisch guten Ort, von dem aus er die Umgebung überblicken kann, setzt oder legt sich hin. Das kann dauern. Manchmal eine Stunde. Er beobachtet in seiner angemessenen Individualdistanz Spaziergänger, Jogger, Radfahrer, Autos, andere Hunde, Menschen bei ihren Beschäftigungen.
So haben wir es ganz ohne Strategien und Trainingspläne geschafft, dass Paul in seinem Tempo und in seinem Verständnis gelernt hat, dass von Begegnungen keine Gefahr ausgeht.

Paul ist inzwischen erstaunlich sicher, wenn Autos, Jogger oder Radfahrer passieren. Das wäre bis vor Kurzem undenkbar gewesen. Da mussten wir aufpassen, dass er nicht plötzlich in die Leine sprang. Wenn aber der Groschen bei Paul mal gefallen ist, dann richtig und zuverlässig. Weil er es in seinem Verständnis gelernt und verinnerlicht hat. Nicht in unserem vorgegebenen Tempo mit längst überholten Methoden. Notfalls aversiv, wenn es nicht schnell genug klappt.

Fazit

Es ist ja nicht so, dass ich es mir einfach mache. Das ist es nicht. Im Gegenteil. So kostet es bei weitem sehr viel mehr Zeit und Geduld. Vor allem Einfühlungsvermögen in seinen Hund und sein Denken. Mit starken Nerven muss man ausgestattet sein. Nicht des Hundes wegen. Sondern wegen der Menschen, die es vermeintlich besser wissen. Deren Blicke und Reaktionen Bände sprechen, verächtlich und überheblich sind, weil ich von richtiger Hundeerziehung keine Ahnung habe.

Mag sein, dass das so ist. Ich habe mich nie damit auseinandergesetzt. Weiß nur, dass das, was ich analog und digital sehe, mir nicht gefällt. Weil ich es nicht mag, unfreundlich zu sein und ich schlicht und ergreifend nicht verstehe, warum man aus seinem Hund ein Zirkuspferd machen muss. Man ihn mit 1000 Neins bombardieren muss, ihm überhaupt alles verbietet, was er gerne tun möchte.
Stattdessen lasse ich mich auf die andere Seite ein. Mal sehen, was Paul tun würde, wenn er entscheiden dürfte. Damit habe ich beste Erfahrungen gemacht. Ich begebe mich mit Paul auf entspannte Spaziergänge und darf selbst eine Menge erleben. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie jemanden gesehen, der so mit seinem Hund unterwegs ist, wie ich es bin.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Paul keinen Stöcken oder Bällen nachjagen möchte, damit er daheim platt in der Ecke liegt. Zuhause bleibt er ein Hovawart, der aufpassen möchte. Das könnte er nicht, wenn ich ihn draußen auspowern würde. Klar, hat Paul seine berühmten fünf Minuten und tobt nach Herzenslust. Das darf er dann auch, ohne dass ich ihn störe und ich mir beweisen muss, wie gehorsam er ist. Danach geht er aber wieder seinen eigentlichen und hündischen Beschäftigungen nach. Kommt übrigens auch von alleine, ohne dass ich ihn rufen muss. Er schaut sich ohne Aufforderung nach mir um. Schon immer. Weil ich mich freue und ihn lobe, dass er auf mich achtet. Dann kommt er voller Freude, stupst mich an, holt sich Streicheleinheiten und Leckerchen. Freude in der Endlosschleife und ein glückliches Hundegesicht. Gewünschte Verhaltensweisen haben sich von ganz alleine entwickelt. Ohne für beide Seiten anstrengendes Training. Einfach nur weil ich geduldig war und gegen den Strom geschwommen bin.

Mittlerweile befinde ich mich in guter Gesellschaft. Man findet sich über kurz oder lang. Es gibt eine Handvoll an Hundecoaches oder -schulen nach meinem Geschmack. Auch Menschen, die respektvoll, freundlich und freudig im Umgang mit ihren Hundekindern sind. Leider nur in den sozialen Medien und alle nicht in unserer Nähe. Dort kann ich mir den Feinschliff im Umgang mit Paul holen. Dort bekomme ich Tipps ganz nach meinem Geschmack, mit denen ich leben kann und die mir keine Magenschmerzen bereiten. Dort spricht keiner von Dominanz, Impulskontrolle, Fußläufigkeit, Erziehung oder Training.

Sogar eine Frau mit Hovawart habe ich in der Facebook-Gruppe einer freundlichen Hundetrainerin gefunden. Sie bestätige, dass sie durch die klassischen Ansätze große Probleme mit ihrem Hund hatte. Er war schon vier als sie auf den freundlichen Weg aufmerksam wurde. Jetzt sei alles gut.

Dabei fällt mir gerade ein, dass ich nicht einen einzigen Trainer kenne, der sich mit einem Hovawart schmückt. Es sind ausschließlich Rassen wie Border Collie, Australian Shepard, Labrador oder Schäferhund. Hm… – keine Ahnung warum :-)))))

Ich bin sehr glücklich bezüglich Pauls Entwicklung und ein wenig stolz, dass ich so unbeirrt meinen Weg mit ihm gehe. Paul hat eine unglaubliche Strahlkraft, ein außergewöhnliches Selbstverständnis. Ich freue mich von ganzem Herzen, so richtig mit Luftsprüngen und Lobeshymnen bis in den Himmel, wenn Paul erwünschtes Verhalten zeigt. Weil er in seinem Kontext verstanden hat, worum es geht. Nicht weil ich ihn gezwungen habe.

Wo werde ich mit Paul in einem Jahr sein? Fortsetzung folgt…

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